Berlin besetzt

Berlin besetzt

Protestgeschichte online
Hannes Obens / Fotos: 1-3 Umbruch Bildarchiv, Bild 4 Webseite

Wie schreibt sich eigentlich Protestgeschichte in die Gegenwart einer Stadt ein? Die neue Webseite berlin-besetzt.de hat sich zum Ziel gesetzt, einen Überblick über die mehr als 40-jährige Geschichte der Haus- und Raumbesetzungen in Berlin zu geben. Anfangs ein wenig Skepsis: Ist das jetzt so ein Nostalgieprojekt, klopfen sich da altgediente Autonome gegenseitig virtuell auf ihre Lederjacken-Schultern oder wird hier auch der Blick nach vorne gerichtet?

„Von 1970 bis 2014 hat es mehr als 630 Besetzungen von Häusern und Wagenplätzen gegeben, von denen über 200 legalisiert worden sind“, erzählt Toni vom „Medienkollektiv Pappsatt“, das die Webseite betreibt. Das Kollektiv versteht sich als „Schnittstelle zwischen politischem und künstlerischem Aktivismus“. Gegründet 2008 während der Proteste gegen Mediaspree, mischt sich „Pappsatt“ in die Stadtpolitik ein. Schwerpunkt ist politische Kunst im öffentlichen Raum.

 

Beim Betrachten der Webseite fällt auf: sie ist erstaunlich nutzerfreundlich. Im Zentrum steht eine interaktive Karte, auf der alle bekannten Besetzungen der letzten viereinhalb Jahrzehnte markiert sind. Dazu gibt‘s Informationen zur Geschichte der Besetzung und der weiteren Entwicklung, Räumung oder Erhalt. Wenn man den Regler der Berlinkarte auf der Zeitachse nach links oder rechts schiebt, poppen Punkte auf. Mal einzeln, mal wie ein Flächenbrand, einige bleiben, andere verschwinden wieder.

Die Karte hält einige Überraschungen bereit: wer hätte z.B. gewusst, dass die erste „registrierte Besetzung“ 1970 im Märkischen Viertel, einer Westberliner Trabantenstadt, stattfand? Kaum überraschen dürfte hingegen das Meer von Punkten auf der Karte im Kreuzberg der 1980er Jahre. Schiebt man den Regler weiter nach rechts, sieht man, wie nach dem Mauerfall die Welle nach Friedrichshain und Prenzlauer Berg schwappt und schließlich wieder nach Kreuzberg zurückkommt.

 

Die Bewegung lebt

 

Erkennbar ist ein Revival von Besetzungen in den letzten Jahren. Während ab Mitte der 1990er bis vor drei Jahren kaum neue „Squattings“ dokumentiert sind, ist seitdem wieder einiges im Gange. Die Webseite erfasst auch den spannenden Wandel der Konflikte, der Akteure und ihrer Mittel. Militante Besetzungen mit Straßenkämpfen weichen Aktionsformen wie einfachen Sitzblockaden (z.B. Kampagne gegen Zwangsräumungen).

Besetzungen sind auch keine exklusive Angelegenheit der linken Szene mehr. Nicht nur mehr Autonome, sondern auch Prekarisierte, vielfach Flüchtlinge, okkupieren Objekte und nehmen sich öffentlichen Raum. Hierfür stehen die Besetzungen der Gerhart-Hauptmann-Schule, des Oranienplatzes und der Brache an der Cuvrystraße in Kreuzberg, die von Menschen aus ganz Europa bewohnt wird. Toni macht daran einen merklichen Trend fest. Es werden weniger einzelne Objekte, sondern der öffentliche Raum okkupiert. Damit wird der Protest auch viel sichtbarer als hinter einer Hausfassade.

 

Die Macher haben aber nicht nur eine aufschlussreiche Chronik erstellt, sondern unter der Rubrik Medien auch eine riesige Auswahl von Fotos, Broschüren, Plakaten und Zeitschriften aus der Hausbesetzer-Szene liebevoll zusammengetragen. Durch die Zusammenarbeit mit dem Papiertiger-Archiv und dem Umbruch Bildarchiv wird berlin-besetzt.de für zeitgeschichtlich Interessierte zu einer wahren Fundgrube.

 

Zweifellos kann beim Betrachten der Spuckis und der wachsmatritzenvervielfältigten Flugis sepiagetönte Nostalgie aufkommen, dennoch macht Toni deutlich, dass die Zeit der Squattings nicht vorbei ist, dass viele Häuser die Stadt und ihre Bewohner_innen weiter prägen. Gerade den Rückzug in die subkulturelle Nische macht er als Fehler aus. Dass es heute auch erfolgreich anders gehen kann, zeigt die Mietergemeinschaft Kotti & Co in Kreuzberg. Sie schafft es besser als die damalige Szene Menschen verschiedener sozialer und kultureller Herkunft zu vereinen. Das eigeninitiativ errichtete Holzhaus am Kottbusser Tor ist ein sichtbares Symbol für den Mieterwiderstand geworden und strahlt weit über seine Nachbarschaft hinaus.

 

http://berlin-besetzt.de/

http://umbruch-bildarchiv.de/willkomm1.html

Di, 08/19/2014 - 12:48
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